September 2022

Abtreibung

Grundrecht oder Mord?

Hannah Metzker (21) studiert Geschichte und Politikwissenschaft

Als der Oberste Gerichtshof in den Vereinigten Staaten am 24. Juni dieses Jahres das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbrüche aufhob, ging der Protest weit über die sozialen Medien hinaus. Alleine in der US-Hauptstadt Washington D.C. fanden sich mehrere tausend Menschen zusammen, um gegen die Entscheidung des Supreme Courts zu demonstrieren. Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten bahnten sich über das Internet ihren Weg schließlich auch bis nach Europa.  

Emotionales Thema mit langer Geschichte

Ab wann beginnt Leben? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Menschheit seit der Antike. Im Römischen Reich beispielsweise wurde der Embryo als Teil des weiblichen Körpers und somit nicht als eigenes Lebewesen verstanden. Das klassische römische Recht geriet mit der Christianisierung jedoch schnell in den Hintergrund. Im christlichen, mittelalterlichen Europa wurde der Schutz des ungeborenen Lebens immer wichtiger, weil davon ausgegangen wurde, dass die Seele einer Person bereits vor ihrer Geburt existiert und somit geschützt werden muss. Seither spaltet die Frage rund um die Rechtsauffassung von Schwangerschaftsabbrüchen ganze Gesellschaften.  

Medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse haben sich seither enorm weiterentwickelt. Im 19. Jahrhundert erkannten Wissenschaftler*innen, dass ein Ungeborenes erst zwischen dem siebten und achten Schwangerschaftsmonat eigene Lebensfähigkeit erreicht. Aufgrund der medizinischen Möglichkeiten ist es mittlerweile jedoch möglich, dass auch Frühgeborene, die keine 24 Wochen im Mutterleib waren, eine vorzeitige Geburt überleben können.  

Schwangerschaftsabbruch als Selbstbestimmungsrecht

Das Argument der Kritikerinnen, eigens über ihren Körper bestimmen zu wollen, ist bei weitem nicht so alt wie die Geschichte der Abtreibung selbst. Lange basierte der Wille für Schwangerschaftsabbrüche nicht auf dem Rechtssubjekt der Frau, die das Kind im Zweifelsfall austragen muss, sondern war vaterrechtlich bestimmt. In der Antike waren beispielsweise oft Sorge um den schönen Körper der Ehefrau, aber auch die Vertuschung außereheliche Affären Gründe für Abtreibungen. Gründe, die allesamt von Männern ausgingen. Wirft man einen weiteren Blick in das römische Recht, erkennt man auch hier ähnliche patriarchale Züge. Eine Frau, die ohne die ausdrückliche Zustimmung ihres Ehemannes einen Schwangerschaftsabbruch vornahm, unterband damit den väterlichen Anspruch auf Nachkommenschaft und wurde nicht selten bestraft.  

Mit dem Aufkommen des Christentums in Europa verschob sich das Recht, über Abtreibungen zu bestimmen. Denn nun waren es nicht mehr die Väter, die das Entscheidungsrecht innehatten, sondern Gott selbst. Einmischung in die göttliche Ordnung war sowohl Frau als auch Mann untersagt.  

Erst im Laufe der Aufklärung und Entchristianisierung rückt das Thema in die Mitte der Gesellschaftspolitik und die Frage nach dem Recht auf, beziehungsweise Verbot von Abtreibungen ist fortan von den allgemeinen Interessen einer Gesellschaft abhängig. Der Nationalsozialismus dient hierbei als geeignetes Beispiel: Mit Ehrenauszeichnungen wie dem „Mutterkreuz“ wurden „arische“, also den Rassenvorstellungen der Nationalsozialist*innen entsprechend „reine“ Mütter für das Gebären von Kindern belohnt. Frauen, die den rassistischen Idealen des Nazi-Regimes nicht entsprachen und beispielsweise jüdischer Abstammung waren, wurden hingegen zu Abtreibungen gezwungen.  

Das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche im Zusammenhang mit dem Kampf um Selbstbestimmung der Frauen fand erst in den 1970er Jahren Resonanz in der breiten Gesellschaft. Zu dieser Zeit kam es zu ersten medialen Kampagnen und erste Ansätze eines Versuchs, Abtreibung zu enttabuisieren, haben begonnen. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage um Recht, Pflicht und Verbot bei diesem Thema, wie man an jüngsten Schlagzeilen unschwer erkennen kann, hochaktuell.  

© pexels.com, Brett Sayles

Spezialfall Amerika: Roe v. Wade

Bevor näher auf den Rechtsfall „Roe v. Wade“ eingegangen werden kann, braucht es eine kurze Übersicht über das US-amerikanische Rechtssystem: Grundsätzlich haben alle 50 Bundesstaaten in den USA ihr eigenes Gerichtssystem. An der Spitze der Gerichtspyramide steht jedoch der Supreme Court, also der Oberste Gerichtshof. Dieser ist vor allem für Angelegenheiten des Bundesrechts zuständig. Richter*innen des Supreme Courts werden vom Präsidenten (mit Zustimmung des Senats) bestimmt und stehen dem jeweils regierenden Präsidenten politisch oft sehr nahe. Die zuletzt von Donald Trump bestimmten Richter*innen waren politisch auf der konservativen Seite verortet, weshalb im Supreme Court aktuell eine konservative Mehrheit an Richter*innen existiert. Eine weitere Besonderheit des US-amerikanischen Gerichtssystems: Gerichtsurteile werden hier nicht, wie beispielsweise in Österreich, basierend auf dem niedergeschriebenen Gesetz getroffen, sondern basieren auf Präzedenzfällen. Bei jedem neuen Gerichtsverfahren wird daher nicht das Gesetz selbst in Betracht gezogen, sondern die Urteile vorangegangener Gerichtsverfahren.  

Roe v. Wade war ein solcher Präzedenzfall. Am 22. Jänner 1973 entschied der US Supreme Court, dass eine staatliche Regulierung von Schwangerschaftsabbrüchen verfassungswidrig sei. Das war das Ergebnis eines dreijährigen Gerichtsverfahrens bei dem Jane Roe (Pseudonym, um die Identität der Frau zu schützen) den Bezirksstaatsanwalt von Dallas County Henry Wade anklagte. Henry Wade war davon überzeugt, dass der Fötus als Mensch angesehen und geschützt werden muss. Roe hingegen verwies hingegen darauf, dass ein Abtreibungsverbot die Freiheit von Frauen einschränkt und zu sehr in die Privatsphäre einer Person eingreift. Mit diesem Urteil legte der US Supreme Court zwei essentielle Grundsätze für zukünftige Gerichtsverfahren fest: Erstens, dass die Amerikanische Verfassung jedem*jeder Bürger*in ein „Grundrecht auf Privatsphäre“ zusteht und somit jeder die Freiheit hat selbst über einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Zweitens legt der Oberste Gerichtshof allerdings auch fest, dass ein Recht auf Abtreibung zwischen den Interessen der Regierung am Schutz der Gesundheit und den Bürger*innen abgestimmt werden muss.  

Im Juni 2022 entschied der mehrheitlich konservative US Supreme Court, den Präzedenzfall „Roe v. Wade“ durch den Präzedenzfall „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“ zu ersetzten. Das Gerichtsverfahren Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization kam zu dem Schluss, dass ein gesetzliches Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen nicht verfassungswidrig sei. Mit der Einführung dieses Gerichtsurteils als Präzedenzfall wurde über 50 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung – allen Frauen – die Möglichkeit auf eine legale und sichere Abtreibung genommen.  

Abtreibungen wird es immer geben

Der Wunsch von Frauen – aus welchen Gründen auch immer – eine Schwangerschaft zu beenden, wird immer existieren und war auch schon immer existent. Unabhängig von der rechtlichen Lage im jeweiligen Land. Die Gründe dafür sind vielfältig und individuell. Die entscheidende Frage dabei ist, inwiefern man Frauen eine offene Beratung, sichere Operationen und faire psychische Aufarbeitung ermöglichen kann und möchte. Aber auch, inwiefern Länder mit einem Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen eine Gesundheitsgefährdung der Frauen durch eine erzwungene Austragung des Kindes billig in Kauf nehmen. Offen bleibt auch, inwiefern solche Verbote die Durchführung illegaler, bedeutend gefährlicheren Abtreibungen begünstigen.  

Die Ereignisse in den USA haben die geographischen Grenzen des Landes weit überschritten und erreichten in Windeseile auch die sozialen Medien. Einmal mehr zeigte die Generation Internet, dass eine breite Vernetzung auch Vorteile haben kann: Auf TikTok fanden sich Nutzer*innen zusammen und boten Betroffenen ihre Hilfe und Unterstützung an, beispielsweise durch das Angebot von Unterkünften in Bundesstaaten und Ländern, in denen Abtreibungen weiterhin legal sind. Die Aussicht, dass diese Generation wohl die der konservativen Richter*innen des US Supreme Courts überdauern wird, kann wohl als Lichtblick in dunklen Zeiten gedeutet werden.  

 

 

Quellen:

Krones, Tanja. “Abtreibung – medizinethisch.” In Handbuch Sterben und Tod, 375–81. Stuttgart: J.B. Metzler, 2020, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05762-4_55

https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/06/abtreibung-in-den-usa-die-geschichte-von-roe-v-wade

https://orf.at/stories/3273040/

https://www.nzz.ch/international/abtreibungsrecht-in-den-usa-das-oberste-gericht-kippt-die-nationale-liberalisierung-gliedstaaten-koennen-entscheiden-ld.1657827?reduced=true

https://www.bbc.com/news/world-us-canada-62109971

https://www.gew-nds.de/aktuelles/detailseite/der-kampf-um-das-selbstbestimmungsrecht-der-frauen

https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/10652/besonderheiten-des-rechtssystems/

https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-supreme-court-donald-trump-konservative-richter-waffenbesitz-abtreibung-1.5343017

https://www.juraforum.de/lexikon/common-law

https://www.britannica.com/event/Roe-v-Wade

https://supreme.findlaw.com/supreme-court-insights/roe-v--wade-case-summary--what-you-need-to-know.html

https://www.britannica.com/topic/Dobbs-v-Jackson-Womens-Health-Organization

https://theconversation.com/abortion-the-story-of-suffering-and-death-behind-irelands-ban-and-subsequent-legalization-182812