Dezember 2021

Mit dem Auto von Krems nach Lappland

Merlin Mayer (22) studiert Biologie

Ein Sommer-Roadtrip in den kalten Norden. Endlose Wälder, spiegelglatte Seen, verschlafene Städte und unberührte Natur. Das ist Finnland.

Finnland ist weiter entfernt, als man vielleicht denkt. Exakt 1.746 km beträgt die Entfernung zwischen Krems und Helsinki auf der Straße. Oder anders gesagt – gut 22 Stunden Fahrtzeit, um überhaupt erst an den südlichsten Zipfel unseres Urlaubsziels zu kommen. Die Frage: „Warum so weit weg fahren? Warum mit dem Auto?“, ist berechtigt.

Jedoch ist es gerade die Abgelegenheit, die Finnland zu einem reizvollen Reiseziel macht. Das Jedermannsrecht – ein Gesetz, das besagt, dass jeder Mensch das Recht hat, „die Natur zu genießen und ihre Früchte zu nutzen“ – ermöglicht es Campern an jedem beliebigen Ort zu übernachten, sei es ein idyllischer See, eine fantastische Bergkulisse oder einfach am Straßenrand. Zusätzlich gibt es in keinem europäischen Land so viele Nationalparks wie in Finnland – insgesamt 40 an der Zahl. Ein wahrer Sehnsuchtsort für Vanlife[1]-Romantiker und Naturliebhaber wie mich.

© Merlin Meyer© Merlin Mayer

Vor einigen Jahren habe ich mir vorgenommen, innerhalb von Europa nicht mehr mit dem Flugzeug zu reisen. Deshalb war für mich klar, wenn es nach Norden geht, dann mit dem Auto. (Mit dem Zug wäre es natürlich noch umweltfreundlicher, doch die Praktikabilität und Flexibilität des Autos ist auf einer Reise wie dieser ein entscheidender Vorteil.) Das bedeutet natürlich, man benötigt Zeit. Ganze drei Tage brauchten meine Freundin und ich, um die Strecke nach Helsinki zurückzulegen. Wir fuhren durch Tschechien und verbrachten unsere erste Nacht auf einem Campingplatz im Norden Polens, wo wir nach etwa 10 Stunden auf der Straße in unsere Schlafsäcke krochen und es uns in unserem ausgeborgten VW Caddy – so gut wie möglich – gemütlich machten. Unsere etwa 5 cm dicke Matratze konnte den harten Kofferraumboden und den engen Schlafraum nur schwer ausgleichen.

 

Verschlafene Städte

Nach einer weiteren Übernachtung in Lettland und einer dreistündigen Überfahrt mit der Fähre erreichten wir Helsinki, den Startpunkt unseres finnischen Abenteuers. Es waren nicht die Städte, die uns in dieses Land zogen, aber trotzdem wollten wir auch die urbanen Regionen ein wenig erkunden. Helsinki hat mit etwa 650.000 Einwohnern nur etwa ein Drittel der Größe Wiens, und das merkt man, wenn man durch die Straßen der Stadt spaziert. Es mag an der Pandemie liegen, doch bei unserem Besuch wirkte die Stadt ziemlich leer und verschlafen. Wir vermissten vor allem eine lebhafte Fußgängerzone, wie sie in mitteleuropäischen Städten eigentlich immer anzutreffen ist. Auch fehlt es an imposanten historischen Gebäuden, die von der Geschichte der Stadt erzählen, denn die ist relativ kurz. Anfang des 19. Jahrhunderts war Helsinki eine kleine Handelsniederlassung mit nur 4000 Einwohnern. Damit fehlte natürlich die Zeit klassische Touristenhotspots wie Schönbrunn oder die Ringbauten in Wien zu erbauen.

Immerhin entstand im Norden des Zentrums ein von moderner Architektur geprägter Kulturbezirk. Dort stehen in einem gigantischen Park unter anderem die Staatsoper und das größte Konzerthaus Finnlands, die Finlandia. Viele der Gebäude entspringen dem Architekturstil des Funktionalismus, dessen Vertreter per Definition die Funktion eines Gebäudes über dessen Ästhetik stellen. In ganz Helsinki kann man diese meist in schlichtem Weiß gehaltenen, äußerlich lieblos wirkenden Bauwerke finden. Die Oper erinnert eher an ein Hallenbad. Wenig überraschend machte das die Stadt in unseren Augen nicht unbedingt ansprechender.

Dennoch war unser Highlight in Helsinki – neben ausgezeichneten Korvapuusti (finnische Zimtschnecken) – ein Gebäude, nämlich die städtische Bibliothek. Der erst vor drei Jahren eröffnete ultramoderne Bau, dessen Fassade hauptsächlich aus Holz und Glas besteht, beeindruckt nicht nur mit einem futuristischen Äußeren, denn das Innenleben ist umso faszinierender. Auf drei Etagen findet man hier freizugängliche Lern- und Seminarräume, Cafés, mietbare Aufnahmestudios und sogar einige Nähmaschinen stehen zur Verfügung. Ein echtes Musterbeispiel eines öffentlichen Gebäudes im 21. Jahrhundert.

 

Into the Wild

Von Helsinki führte unsere Reise schließlich weiter nach Norden in die finnische Wildnis. Mit Kanus gingen wir auf die Suche nach der Saima-Ringelrobbe. Diese Unterart der Ringelrobbe lebt anders als ihre marinen Verwandten ausschließlich im Süßwasser einiger weniger finnischer Seen und ist stark vom Aussterben bedroht. Leider bekamen wir keine der etwa 400 überlebenden Robben zu Gesicht. Dennoch war es eine beeindruckende Erfahrung mit dem Kanu über die spiegelglatten, nebelbehangenen Seen zu gleiten.

Wir fuhren weiter nach Nordosten, nahe an die russische Grenze – eine Gegend, die für die vielen dort lebenden Braunbären bekannt ist. Obwohl ich sehr stolz auf ein selbstgemachtes Bärenfoto gewesen wäre, hatten wir anders als bei den Robben nicht geplant, in freier Wildbahn auf einen Bären zu treffen. Trotzdem hatten wir die glorreiche Idee gerade in diesem Gebiet eine Nachtwanderung auf einen der höchsten Berge der Gegend zu unternehmen, um den Sonnenaufgang zu sehen. Ich fühle mich normalerweise auch bei Dunkelheit im Wald recht wohl, weshalb es für mich ganz selbstverständlich war, auch hier vor Anbruch der Morgendämmerung aufzubrechen. Doch wenn man weiß, dass zahlreiche Bären durch diese Wälder beiderseits des Weges streifen, fühlt man sich plötzlich deutlich unwohler, und jeder Fels am Wegesrand sieht bedrohlich aus. Wir kamen schlussendlich sicher am – nur knappe 400m hohen – Gipfel an, jedoch waren wir sehr erfreut, als die Sonne aufging und wir den Rückweg bei Tageslicht zurücklegen
konnten.

 

© Merlin Mayer© Merlin Mayer

Einige Tage später erreichten wir das erste große Highlight unserer Reise: den 82 km langen Karhunkierros (auf Deutsch die Bärenrunde) – der berühmteste Weitwanderweg Finnlands. Wir ließen das Auto auf einem Parkplatz zurück und nahmen mit schwer bepackten Rucksäcken den Bus zum Start der Tour. Der Großteil des Weges führt durch den Oulanka Nationalpark, entlang des gleichnamigen Flusses. Spiegelglatte Seen wechseln sich dort mit reißenden Wasserfällen und einschneidenden Schluchten ab – ein absoluter Traum für einen Naturfotografen. Zwischen den Birken und Fichten der finnischen Wälder sprießen die unterschiedlichsten Beerenstauden aus der Erde – das schier endlose Angebot an Heidel- und Preiselbeeren lädt ständig zum Stehenbleiben und Naschen ein.

Pro Tag mussten wir rund 20 km zurücklegen, um unserm selbstgesetzten Ziel gerecht zu werden, den Weg in vier Tagen zu meistern. Das bedeutete jeden Tag mit Sonnenaufgang aufzustehen, um das Tageslicht voll ausnutzen zu können, ohne hetzen zu müssen. Die Nächte verbrachten wir in einfachen „Wilderness Huts“. Anders als in Österreich, sind Wanderhütten in Finnland grundsätzlich nicht bewirtschaftet, und auch nicht mit weichen Matratzen und warmen Decken ausgestattet. Meist gibt es bloß einige Holzbänke auf denen man Isomatte und Schlafsack ausrollt, einen Holzofen, etwas Feuerholz und einige Tische und Bänke im Freien zum Jausnen. Dafür ist die Übernachtung kostenlos. Eine Reservierung ist auch nicht möglich – wer keinen Platz mehr bekommt muss zur nächsten Hütte gehen, doch da die oft mehr als 10 km entfernt sein kann, trugen wir auch unser Zelt im Rucksack mit. Da die nächtlichen Temperaturen schon um 0°C schwankten, waren wir allerdings sehr froh, dass wir es nie auspacken mussten.

 

© Merlin Mayer © Merlin Mayer

 

Endlich Berge und die Kälte Lapplands

© Merlin Mayer© Merlin Mayer

Die beheizbaren Hütten des Karhunkierros grenzten für uns im Verlauf dieser drei Wochen schon geradezu an Luxus. Die überwiegende Mehrheit der Nächte verbrachten wir auf Campingplätzen – entweder im Zelt oder im Auto – bei Temperaturen zwischen 0 und 10°C. Zum Glück hatten wir uns kurz vor dem Aufbruch von zuhause doch noch entschieden, die dicken Schlafsäcke einzupacken. Nachdem wir die Bärenrunde bezwungen hatten, ging es wiederum weiter nach Norden. Wir besuchten die am Polarkreis gelegene Stadt Rovaniemi, die im Winter als beliebter Ort gilt, um Nordlichter zu bestaunen, für uns im Frühherbst jedoch relativ trostlos erschien. Von dort ging es weiter nach Lappland. Je nördlicher wir kamen, umso häufiger bemerkten wir Schilder am Straßenrand, die uns vor freilaufenden Rentieren warnten. Und tatsächlich dauerte es nicht lange bis wir das erste Exemplar entdeckten, dass gemächlich über die Straße spazierte. Viele weitere sollten folgen. Die halbdomestizierten Herdentiere, haben offensichtlich ihre natürliche Angst vor Autos und Menschen allgemein mit der Zeit verloren, denn ihre Lieblingsbeschäftigung schien es zu ein, die Böschungen am Straßenrand abzugrasen und die vorbeikommenden Autos von Zeit zu Zeit zu einer Notbremsung zu zwingen. Als wir eines Abends auf einem verlassenen Parkplatz unseren Campingkocher aufbauten, um uns wie so oft mit Pasta und Sugo zu verwöhnen, wurden wir von einer Gruppe Rentieren regelrecht umzingelt. Doch die friedlichen Tiere scherrten sich gar nicht um uns, sondern umrundeten entspannt das Auto, auf der Suche nach leckeren Gräsern, bevor sie wieder weiterzogen.

Ursprünglich hatten wir auch in Lappland eine mehrtägige Wanderung geplant, doch da wir noch die gerade erst zurückgelegten 82 km in den Beinen spürten, entschieden wir kurzerhand stattdessen zwei kleinere Halbtageswanderungen zu unternehmen. Trotz der spektakulären Flusslandschaft, die wir in den Tagen zuvor durchwandert hatten, sehnten wir uns im flachen Finnland ein wenig nach echten Bergen. Zum Glück gibt es solche in Lappland und dabei sind sie doch nur so hoch, dass sie in einem halben Tag besteigbar sind. Bei der ersten dieser beiden Wanderungen, im Pallas-Yllästunturi-Nationalpark, bestiegen wir den 809m hohen Taivaskero, was bei der in diesen nördlichen Breiten sehr niedrigen Baumgrenze schon als alpines Erlebnis gelten kann. Auf dem Gipfel ist es so kalt und windig, dass es nichts außer Steine gibt. Nicht einmal ein paar Grasbüschel haben hier eine Chance. Das wechselhafte Wetter bescherte uns spektakuläre Blicke in die raue finnische Landschaft, die fleckenweise von einzelnen durch die Wolkendecke brechenden Sonnenstrahlen erleuchtet wurde. Das machte es leichter, den eisigen Wind zu ertragen.

 

Der einsame Norden

Wir hatten noch nicht genug. Wir fuhren noch 200 km weiter nach Nordwesten. Durch Käsivarsi – die kleine Ausbuchtung des finnischen Staatsgebiets, dessen Ende unser Ziel war – führt nur eine einzige Straße. Auf den letzten 100 km, die man zwischen der schwedischen Grenze auf der linken Seite und einem riesigen Nationalpark auf der rechten Seite dahinfährt ist, gibt es nichts was auf Zivilisation hindeutet – nur Wildnis. Schließlich erreichten wir ein kleines Dorf kurz vor dem Dreiländereck an dem Finnland, Schweden und Norwegen aufeinandertreffen. Der Ort, Kilpisjärvi, zählt gerade einmal 100 Einwohner. Das Zentrum der Gemeinde, der Kilpisjärvi angehört, ist 165 km entfernt. Es fühlt sich wahrlich an, wie das Ende der Welt. Neben uns hatten sich auch einige Wohnwägen hierher verirrt. Ihre Besitzer hatten dasselbe Ziel wie wir. Kilpisjärvi liegt nämlich im Schatten des Saana, mit 1029 Metern Höhe einer der höchsten Berge Finnlands. In gut zwei Stunden ist der Gipfel vom Dorf aus erreichbar und bietet eine spektakuläre Aussicht über das skandinavische Gebirge und die umliegende Wildnis. Wir erreichten den Gipfel gegen Mittag – das Datum war der 1. September und begrüßt wurden wir mit Schneefall. Es zeigte sich wiederum – in Finnland ist der Spätsommer der Anfang des Winters.

Beim Abstieg brachen die Wolken im Westen auf und offenbarten uns einen fantastischen Blick in die vergletscherten Berge Norwegens. Kurz dachte ich bei diesem Anblick, Norwegen wäre womöglich ein besseres Reiseziel gewesen. Doch schnell wurde mir wieder klar, dass auch Finnland mit traumhaft-schöner Landschaft bestechen konnte und dieser Urlaub in jeder Hinsicht ein einmaliges Erlebnis war.

 

Ein einmaliges Erlebnis

Von Kilpisjärvi ging es dann wieder nach Süden. Auf dem Rückweg unternahmen wir noch einige Wanderungen durch die Sümpfe und Wälder Finnlands, die landschaftlich jedoch nicht mit Lappland oder dem Karhunkierros mithalten konnten. Wir merkten, wie unsere Energie langsam zur Neige ging und die Sehnsucht nach einem weichen Bett in einem warmen Haus mehr und mehr anstieg. Nach drei Wochen Erlebnisreise durch das kalte Finnland bestiegen wir schließlich wieder die Fähre nach Tallinn und machten uns auf den Heimweg.

 

© Merlin Mayer

© Merlin Mayer

 

Eine Reise wie diese ist immer ein einmaliges Erlebnis. Das Urlaubsziel spielt dabei gar keine große Rolle. Es geht vielmehr darum, das Gefühl der Freiheit zu erleben, auf vier Rädern und mit Zelt von Campingplatz zu Campingplatz zu kurven und dabei so richtig das Leben zu spüren. Finnland konnte mit spektakulären Landschaften und riesigen Flächen abgeschiedener Wildnis beeindrucken – trotzdem wird es uns nächsten Sommer wieder in den warmen Süden ziehen.

 

 

Vanlife[1]: der Traum von der Freiheit im eigenen Campervan zu leben boomt auch auf Instagram in den letzten Jahren gewaltig.